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DER MENSCH ALS SEHNSUCHTSWESEN



Nicolas Matter: Wa(h)re Sehnsucht? – Begleitende Gedanken zum Vortrag


Das ist die Sehnsucht: Wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit. Und das sind Wünsche: Leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit.“ (Rilke, 1899, Sehnsucht)


Der Mensch scheint kein Zuhause zu haben in der Zeit, keinen Ort, an dem er vollständig ankommen kann, nur eine leise Erinnerung, ein Wissen darum, wie es sein könnte, wie es sein sollte. Er sehnt sich und weiß um dieses Sehnen nach dem, was „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch, 1959, S. 1628) Damit weiß er um die Sehnsucht nach vollendetem Glück, nach Erlösung, die ihrerseits immer auf Ganzheit zielt (vgl. Ratzinger, 1973, S. 143). Doch in der Wirklichkeit kann diese leise Hoffnung häufig nur als positive Hintergrundfolie für die real existierenden Verhältnisse fungieren, bei deren Anblick dem Dialogphilosophen Martin Buber recht gegeben werden muss, wenn er konstatiert: „Die Welt ist unerlöst – fühlen Sie das nicht wie ich in jedem Blutstropfen?“ (Buber, 1972). Ist die Sehnsucht nach ganzheitlicher Erlösung, die Sehnsucht nach Ewigkeit, dem spätmodernen Menschen, der dem prophetischen Bilde des letzten Menschen von Nietzsche bis aufs Haar zu gleichen scheint, vielleicht endgültig abhandengekommen? Wenn die Sehnsucht des Menschen auf Glück ausgerichtet ist, was würde das für den letzten Menschen bedeuten, der sich sicher ist, das Glück erfunden zu haben, dieses aber alsbald gleichsetzt mit seinem Lüstchen für den Tag und für die Nacht (vgl. Nietzsche, 1883, S. 599f.)?

Denn tatsächlich, trotz der vielschichtigen und polyvalenten Bedeutungsebenen des Glücksbegriffes und der dadurch verunmöglichten Einschränkung dieses vielstimmigen Konzeptes auf semantische Eindeutigkeit, kann ohne zu zögern die Bettgenossenschaft heutiger popkultureller Glücksvorstellungen mit einem spätkapitalistischen Kauf- und Konsumimperativ festgestellt werden. Zwischen „Kauf dich glücklich“ über „Geiz ist geil“ zu „Connecting people“ lässt sich mehr oder minder auf jegliche Sehnsucht des Menschen ein kapitalistisch getauftes Bonmot aus den mittlerweile kaum noch auszulotenden Tiefen der PR Archive finden. Die Ubiquität solcher medialen Slogans ist keineswegs ein kontingentes Epiphänomen unserer Zeit, sondern aus der Logik des Kapitalismus selbst geboren. Denn die heutige spätmoderne westliche Ökonomie kann sich selbst ohne konstante Beschleunigung – der Soziologe Hartmut Rosa spricht von der Logik einer „dynamischen Stabilisierung“ (Rosa, 2018, S. 675) – kaum noch erhalten, d.h. sie ist so elementar auf ständiges Wachstum ausgerichtet, dass sie dieses Wachstum nur durch die permanente Fabrikation neuer Wünsche (Sehnsüchte), die sie dann durch den Verkauf ihrer Produkte wiederum zu befriedigen sucht, erreichen kann. Dieses Hervorzaubern von menschlichem Begehren ist nun keineswegs eine Creatio ex nihilo. Der Anknüpfungspunkt für jegliches künstlich erzeugtes Begehren bleibt immer ein echtes Begehren, eine echte Sehnsucht, die dem Menschen unhintergehbar eingeschrieben zu sein scheint – theologisch gewendet die logische Konsequenz seiner – jetzt aber wirklichen – Creatio ex nihilo, seiner Verwiesenheit auf einen Grund, der nicht in ihm selbst gründet. – Gerade weil in den Glücksversprechen und den Sehnsuchtserfüllungshoffnungen der heutigen Welt die Ambivalenz des echten Ausdrucks einer anthropologischen Grundkonstante und der steten Gefahr der Pervertierung ebenjener zum Vorschein kommt, besteht die große Herausforderung kontemporärer Theologie im klugen Manövrieren zwischen der Scylla naiver Affirmation jeglichen Sehnsuchtsgebarens und der Charybdis unbedachter Verwerfung der „zeitgeistig“ gefärbten Glückshoffnungen.

Trotz aller Offenheit, die Wünsche und Sehnsüchte des heutigen Menschen ernst zu nehmen, muss festgehalten werden, dass unser aller Vorstellungskraft zutiefst im Bann dieser konstanten medialen Bedürfniserzeugung steht, was die Theologie vor die herausfordernde Aufgabe stellt, die hegemoniale Durchdringung alltäglicher Konzepte und Vorstellungen – wie eben dem hier behandelten „Glück“ – mit solchen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und zu kritisieren. Diese Kritik wird nun freilich nicht von einem vermeintlich neutralen Standort aus betrieben. Es ist nicht zuletzt die Gebundenheit der Theologie an eine lange Tradition, die es ihr erlaubt, sich ohne Neutralitätsillusionen der eigenen Prämissen und des eigenen hermeneutischen Vorverständnisses bewusst zu werden. Der Zeitenabstand (vgl. Gadamer, 1960, S. 303), der sich durch die diachrone Erstreckung der Tradition als Prozess der Weitergabe, Annahme, Reartikulation einstellt, kann dabei äußerst produktiv sein und dazu beitragen, unser als selbstverständlich angenommenes Verständnis der Wirklichkeit (vgl. Heidegger, 1927, S. 58), das als prä-reflexives Verständnis immer schon orientierend operativ agiert, noch einmal auf ebendiese Orientierungsmatrix hin zu befragen. Doch was hat dies nun mit dem zuvor angeschnittenen Problemfeld ubiquitärer Bedürfnisaufdrängung zu tun? Wenn Phänomenologie (die Art und Weise, wie uns die Welt erscheint) und Hermeneutik (die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen und deuten) gleichursprünglich sind, wenn wir also unsere Wirklichkeit immer schon als eine bestimmte wahrnehmen und sie immer schon irgendwie verstanden ist, dann scheint die Annahme folgerichtig, dass die Pädagogik der Werbeindustrie den Menschen in seinem relativ spontanen vor-reflexiven und orientierenden Umgang mit der Wirklichkeit prägen kann und de facto prägt. Aus solchen Prägungen kann sich der Mensch nicht einfach rausdenken, da sie in erster Linie ästhetisch-leiblich funktionieren und dadurch auch unmittelbar die Intuitionen des Weltumgangs formieren. Wer aber könnte heutzutage ernsthaft wollen, dass seine Intuitionen und Wünsche von den Profitmaximierungsfantasien einzelner Großkonzerne geprägt werden?


Wenn die Theologie also von „Sehnsucht“ und „Glück“ spricht und es ihr gelingt, dem Menschen in ausgezeichneter Weise seine Ausrichtung auf Transzendenz vor Augen zu führen, dann ist dies innerhalb einer Gesellschaft, die in einem „ausweglos dichte[n] Gewebe der Immanenz“ (Adorno, 1970, S. 362) gefangen zu sein scheint, schon sehr viel. Gleichzeitig muss sie aber zwei weitere Dinge leisten: (1) Sie müsste aus ihrer eigenen Position heraus die teilweise ausgehöhlten Begriffe wie „Sehnsucht“ oder „Glück“ mit genuin theologischem Inhalt füllen und deutlich machen, dass Glück eben nicht mit Konsum und Profit, aber auch nicht mit radikaler Selbstbestimmung und leerer Wahlfreiheit gleichzusetzen ist. (2) Müsste sie auf den Ort verweisen, an dem der besprochene Transzendenzbezug nicht in seiner Abstraktheit und die Sehnsucht dadurch im Halbdunkel belassen würde, wo vielmehr zu dem Menschen geblickt wird, bei dem sich dieser Bezug radikal inkarnierte: Jesus Christus! Dieser Ort ist die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche, in welcher durch die tätig-verschenkende Liebe ein Weltzugang vermittelt werden sollte, der nicht nur im nach-denken (und damit immer auch verspätet), sondern im gelebten Dasein die Welt als Gabe, die Nächsten als Bruder und Schwester und Gott als Liebe erfahren kann. Wenn die Theologie diese Aufgaben übernehmen und dadurch zu einer Taufe nicht nur der Konzepte und Begriffe, sondern auch des menschlichen Blicks einladen könnte, dann gelänge es vielleicht, über Sehnsuchtserfüllung und Glück nicht allein im Modus des Optativs zu sprechen, sondern einen Weg anzuzeigen, auf dem diese Möglichkeiten anfanghaft in Wirklichkeit überführt werden.


Nicolas D. Matter ist diplomierter Theologe und promoviert momentan an der Universität Fribourg.


Verwendete Literatur

- Adorno, Theodor W., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (= Gesammelte Schriften 6). Frankfurt a.M. 2018.

- Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung (= Werkausgabe 5). Frankfurt a.M. 1985.

- Buber, Martin, Brief an den Landgerichtsrat S. In: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten: Band I [1897-1918].

- Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke 1). Tübingen 2010.

- Heidegger, Martin, Sein und Zeit. Tübingen 2006.

- Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. (= Gesammelte Werke), Bindlach 2005, 589-856.

- Ratzinger, Joseph, „Vorfragen zu einer Theologie der Erlösung“. In: Erlösung und Emanzipation (= Quaestiones Disputatae 61), herausgegeben von Leo Scheffczyk. Freiburg i.Brsg. 1973, 141–55.

- Rilke, Rainer Maria, Mir zur Feier: Gedichte, herausgegeben von Manfred Engel. Frankfurt a.M. 2000.

- Rosa, Hartmut, Resonanz: eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2018.

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